Mit hoher Wärmeleitfähigkeit zum Ziel
Wärmeleitfähiges Skoliose-Korsett durch Bornitrid als Füllstoff in Polymersystemen
Skoliosen – so werden Fehlstellungen der Wirbelsäule bezeichnet, bei denen seitliche Verkrümmungen in der Regel mit Verdrehungen im Bereich der Brust- oder Lendenwirbelsäule einhergehen. Stärker ausgeprägt führen sie häufig zu dauerhaften Schmerzen, gerade auch als Folge muskulärer Verspannungen. Besonders häufig treten Skoliosen in wachstumsintensiven Phasen bei Kindern und Jugendlichen auf. Um Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, werden zur Behandlung zunehmend spezielle Skoliose-Korsette eingesetzt. Diese lassen sich von Orthopädietechnikern individuell an die Rückenform des Patienten anpassen. So kann der künftige Wachstumsprozess gegen die Skoliose gelenkt werden.
Anika Spira war 14 Jahre, als bei ihr im Rahmen einer Routineuntersuchung eine Verkrümmung der Wirbelsäule festgestellt wurde. Zwar half das Kunststoffkorsett gegen die Rückenschmerzen, es wurde dafür jedoch, vor allem in der wärmeren Jahreszeit, selbst zum Problem. Um die medizinische Wirkung des Korsetts vollständig nutzen zu können, sollte es mindestens 23 Stunden am Tag getragen werden. Spira: „Klettern die Temperaturen ab Mai auf über 25 Grad, dann wird das Tragen, gerade beim Sport oder wenn wir Ausflüge machen, ziemlich unerträglich.“ Die Folge: „An den Kontaktstellen rötete sich bei mir die Haut und es bildeten sich schmerzhafte Druckstellen.“
Anlässlich des alljährlichen Girls‘ Day entschloss sich die Schülerin des Emanuel-Felke-Gymnasiums im rheinland-pfälzischen Bad Sobernheim, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und einen Orthopädietechniker der Firma Sanomed zu besuchen. „Zunächst einmal war ich erstaunt, wie viel Technik in einem solchen Korsett steckt. Später dann fragte ich mich, warum es rein aus Kunststoff gefertigt wurde. Polymere verfügen über eine eher schwache Wärmeleitfähigkeit und können die Körperwärme dadurch nur langsam nach außen abgeben. Im Gespräch mit dem Techniker wurde mir dann klar, dass das Problem mit dem Wärmestau bis dahin überhaupt noch nicht bedacht worden war.“
Spira fing zuerst an, sich mit den Ausgangsmaterialien zu beschäftigen. Nachdem sie eine ganze Reihe von Materialien ausgeschlossen hatte, stieß sie bei ihrer Recherche „per Zufall“ auf Bornitrid – einen Stoff, den sie bis dahin gar nicht gekannt hatte. Schnell wurde ihr klar, dass Bornitrid in seiner weißen, pulverisierten Form die Voraussetzungen als Werkstoff optimal erfüllt, denn es ist leicht, sehr stabil und verfügt vor allem über eine herausragende thermische Leitfähigkeit. In dieser Funktion wird es häufig als Füllstoff in der Verbindung mit Polymeren eingesetzt. Je nach Anforderung oder Anwendung kann es dann in unterschiedlichen Formen, Compound-Formulierungen und Verarbeitungstechniken die Wärmeübertragung maximieren. Im Vergleich etwa zu Materialien aus reinem Kunststoff weisen Compounds, die mit Bornitrid gefüllt wurden, eine um den Faktor fünf bis zwanzig höhere Wärmeleitfähigkeit auf. Dazu verfügt Bornitrid über eine weitere besondere Stärke. Aufgrund seiner Konsistenz eignet es sich – wegen der nur geringfügigen Abnutzung der Werkzeuge – auch sehr gut zur industriellen Verarbeitung.
Der nächste Schritt: Um ihre Theorie zu bestätigen, benötigte die Schülerin weitere wichtige Informationen aus der Praxis. In ihrem Vater fand sie dabei einen Mitstreiter, der sie enthusiastisch unterstützte. Hinzu kam, dass sowohl der Orthopädietechniker als auch der Hersteller von Kunststoffplatten sich unweit vom Wohnort der Familie befanden. Jens Spira: „Ich habe dann, um meine Tochter zu unterstützen, die ersten Anrufe dort getätigt. Später haben wir uns, um genauere Informationen zu Bornitrid zu erhalten, an ein Multitechnologieunternehmen in Kempten gewandt, das Hochleistungskeramik herstellt. Auf diese Weise konnte sich Anika weitere Informationen beschaffen, die sie letztlich in der Auffassung bestätigten, mit Bornitrid den optimalen Füllstoff für das Korsett gefunden zu haben.
Um hier entsprechende Ergebnisse vorzuweisen, galt es, einen vielversprechenden Ansatz in eine funktionierende Lösung umzuwandeln. Vor allem wollte sie feststellen, wie sich die höhere Wärmeleitfähigkeit auf das reale Tragegefühl auswirkt. Spira: „Bornitrid ist in der Anschaffung deutlich teurer als Kunststoff. Das hieß: Je weniger wir davon benötigten, umso besser. Dazu kam der technische Aufwand, der für die Herstellung eines Korsettprototypen erforderlich war. Die Anfertigung eines Prototypen war deshalb in diesem Stadium noch zu kostspielig. Wir haben aber ein weiteres Unternehmen dafür gewinnen können, für uns Kunststoffplatten mit unterschiedlich hohen Anteilen von Bornitrid herzustellen.“
Um die Wirkung der einzelnen Testplatten auf die Wärmeleitfähigkeit zu prüfen, baute Spira zusammen mit ihrem Vater eine Klimakammer. In dieser Holzbox, mit einer 60W-Glühbirne als Wärmequelle ausgestattet, ließ sich als einseitige Wand die jeweilige Testplatte einschieben. Auf diese Weise konnte die Schülerin nun Wärmeaufnahme bzw. Wärmeleitfähigkeit auf der Innen- und Außenseite der Platte messen. Neben diesen Messergebnissen mussten weitere Faktoren berücksichtigt werden, die durch einen veränderten Bornitridanteil entstehen konnten. „Größere Anteile von Bornitrid lassen den Kunststoff spröde werden. Das war natürlich kontraproduktiv, denn wir brauchten ja, schon wegen der nötigen Anpassungen, ein möglichst flexibles Grundmaterial.“ Hier galt es einen Kompromiss zwischen der Wärmeleitfähigkeit der Compounds und der Flexibilität zu finden, die einen hohen Tragekomfort gewährleistet.
Der passende Rahmen, um ihr Projekt voranzutreiben, bot sich dann im Zuge des Regionalwettbewerbs von „Jugend forscht“; dort meldete sich Spira im November 2019 an. Der Titel ihrer Arbeit: „Wärmeleitfähiges Skoliose-Korsett durch Bornitrid als Füllstoff in Polymersystemen“. Kurze Zeit später reichte sie, nachdem sie einen Anwalt mit der Anmeldung beauftragt hatte, ein Patent zur Herstellung eines wärmeleitfähigen Korsetts beim Deutschen Patent- und Markenamt ein.
Am 14. Februar 2020 stellte sie ihr Projekt anlässlich der „Jugend forscht“-Veranstaltung in Trier persönlich vor. Das Resultat – „einfach der Hammer“: Platz eins im Fachgebiet „Arbeitswelt“! Dazu wurde Spiras Forschungsprojekt mit dem Sonderpreis für die beste Arbeit und für die Einbeziehung „besonderer fachübergreifender Elemente“ ausgezeichnet.
Auch im Fall der jungen Forscherin zeigt sich, dass nichts so sehr motiviert wie der Erfolg. Spira: „Mein nächstes Ziel ist es, mit der Unterstützung der Unternehmen, die wir ins Boot genommen haben, einen Prototypen herzustellen. Ich hoffe, dass wir Anfang 2021 mit der Herstellung der neuen Korsette anfangen können, das wäre dann einfach nur traumhaft!“
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